Vor der Besichtigung der bedeutendsten Ikonenmalerei Rußlands werden wir noch in ein nahegelegenes Lokal zum Essen eingeladen. Erst langsam realisiere ich, daß sein Begleiter der Direktor des Unternehmens ist. Auch er ist ein begeisterter Motorradfahrer. Aber mich beschäftigt etwas ganz anderes: Paul ist weg! Einfach so an der wartenden Gruppe vorbeigefahren. An mehreren möglichen Abzweigen steht er nicht! Dazu kommt, daß er nicht in der Lage ist, die kyrillischen Ortsschilder zu lesen und so den Abzweig nach Palech verpaßt hat.
Nun verstehen auch die anderen Teilnehmer der Reise, daß nicht nur die Sprache, die Landkarte, die Versicherung oder die Ersatzteile ein Problem bei einer Gruppenreise in Rußland sein können. Das allerwichtigste ist ein Telefon mit den Nummern der Teilnehmern, insbesondere die der Organisatoren und eine volle Handybatterie! Wenigstens diesen Ratschlag hat Paul befolgt.
Also können wir unser Programm „abspulen“ und erhalten durch den Werkdirektor nicht nur eine „Spezialführung“, sondern auch Antworten auf eigentlich jede Frage. Etwa 250 Mitarbeiter, überwiegend Frauen, fertigen hier im Akkord Ikonen für den immensen Bedarf der orthodoxen Kirchen in Rußland und in den Nachbarländern. Jede Malerin führt nur bestimmte Arbeiten aus. So ist gewährleistet, daß die hohe Kunst dieser Technik auf gleichbleibendem Niveau gehalten wird.
Regelmäßige Schulungen an Hand alter Abbildungen und Kataloge der Museen sorgen dafür, daß der Stil der Ikonen erhalten bleibt, denn Ausdruck und Haltung sowie Farben jedes Heiligen sind seit Jahrhunderten festgelegt und dürfen nicht verändert werden. Zum Abschied bekommen wir noch frisches Brot geschenkt, eine sehr große Ehre in Rußland, damit wir den weiteren langen Weg zum Baikalsee gut bewältigen.
Kurz vor unserer Abfahrt kommt die nächste Nachricht: Paul hatte einen Unfall. Er sei unverletzt, aber seine Maschine wäre fahrtuntüchtig. Also setze ich mich in den Bulli und fahre los. Unter anderem für solche Fälle haben wir das Begleitfahrzeug dabei.
In den Telefonaten zwischendurch gibt mir Paul die Koordinaten durch, die er von seinem Blackberry abgelesen hat. Er steht ca. 75 km von der eigentlichen Route entfernt mitten in einem kleinen Dorf in einer riesigen Waldgegend. Als ich mich seinem Aufenthaltsort auf wenige Kilometer genähert habe, der nächste Schock: Die Koordinaten, die er mir durchgegeben hat, stimmten mit dem Format unserer Garmin Geräte nicht überein! Also im Schnelltempo an den Polizeistreifen am Wolga-Stausee vorbei. Staumauern sind nämlich sicherheitsrelevante Objekte und werden besonders argwöhnisch durch die Polizei überwacht!
Zügig weiter zum Platz der Havarie. Als ich endlich bei ihm eintreffe, ist Jürgen schon da. Paul hat einige leichte Schürfwunden, der Helm ist aufgeplatzt, ein Blinker abgebrochen und der Zylinderkopfdeckel seiner 30 Jahre alten BMW R 80 GS durch seine Rutschpartie durchgescheuert. Bei strömendem Regen hatte er einen LKW überholen wollen und sei dabei in eine Spurrille geraten. Das Aquaplaning hatte ihn zum Bremsen veranlaßt und seinen Sturz zur Folge gehabt. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm klar war, wie viele Schutzengel er bei dieser Aktion gehabt hatte.
Igor ist der Motorradclubvorsitzende der Region Wladimir/Susdal und unser nächstes Hotel ist 400 km von ihm entfernt. Aber wir sind ja in Rußland! Auf meine SMS mit der Bitte um Hilfe folgt nur ein kurzes „Warte“. Paul probiert währenddessen sein Glück bei BMW in Deutschland und beim ADAC. Kurze Zeit später erreicht mich dann die Mitteilung: Um 20 Uhr meldet sich jemand bei Euch im Hotel, dem gibst du das Teil und dann wird dir geholfen! Genau so war es auch.
Am nächsten Tag um 15.00 Uhr haben wir den reparierten Seitendeckel in der Hand; sauber ist das Aluminium aufgeschweißt und der Deckel ist dicht. Inzwischen hat auch der ADAC geantwortet: In 3-5 Tagen könnten wir vielleicht aus Deutschland Ersatz erhalten, wenn bis dahin die Formalien für den Import nach Rußland geklärt sein sollten und wir eine Empfangsadresse angeben würden. Acht Mal bin ich mittlerweile in Rußland, zum wiederholten Male mit meinem Freund Jürgen. Mit seinem Unternehmen MOTTOUREN ist er der Spezialist für Motorradreisen in den Osten.
Auf dieser Reise bin ich das „Mädchen für Alles“ und fahre das Begleitfahrzeug. Ich genieße damit den Vorzug, trocken zu sitzen und habe den Nachteil hinterher zu fahren. Aber da ich die Gepflogenheiten in Rußland gut kenne, dauert es bei allen Begegnungen und Treffen, oft auch unmittelbar am Wegesrand, nur wenige Minuten, bis auch ich Teil des Geschehens bin.
Dieses Mal waren wir mit der Fähre nach Rußland eingereist. Ich konnte St. Petersburg zum ersten Mal während seiner „Weißen Nächte“ besuchen, leider es regnete es! Auf halbem Weg nach Moskau begrüßen uns die Waldai-Biker und laden uns ein. Wir dürfen uns in diesem bedeutsamen Naturschutzgebiet nördlich von Moskau, in dem auch Putin seine Datscha hat, erholen. Mitten dabei ist Jürgens Freund Gisbert, der seit über 25 Jahren als Korrespondent in Rußland lebt. Er ist es auch, der uns das russische Leben mit Datscha auf dem Lande und Stadtwohnung in Moskau näher bringt.
“Auf dem „Goldenen Ring“
Unser Weg führt uns um Moskau herum zur Klosterstadt Sergejew Possad, das ehemalige Sagorsk, inzwischen Weltkulturerbe und später am Nachmittag erreichen wir Susdal. Nach einer Stadtführung sitzen wir noch lange mit Vertretern des lokalen Motorradclubs zusammen. Höhepunkt dieses Teils der Reise auf dem „Goldenen Ring“ im Umkreis von 300 km um Moskau sollte eigentlich die Ikonenmalerei in Palech sein. Stattdessen ereignet sich die oben erwähnte Episode.
Ab Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, fahren wir wieder gemeinsam weiter. In Ishewsk, Hauptstadt der benachbarten Republik Udmurtien, empfängt uns am Stadtrand Dimitri mit seinen Freunden vom örtlichen Motorradclub.
Er ist in Parchim bei Schwerin geboren, spricht aber kein Deutsch. Wir hatten ihn bereits vor einem Jahr auf unserer letzten Reise nach Sibirien kennengelernt. Unser Aufenthalt in dieser Industriestadt reicht für den Besuch des neuen Kalaschnikow-Museums und für eine ausführliche Stadtführung am nächsten Morgen. Hier, im Nord-Ural, befand sich im 2. Weltkrieg das Zentrum des Handfeuerwaffenbaus.
Auf der Weiterfahrt lernen wir die andere Seite der Stalin-Zeit kennen: das Straflager „Perm 36“. Als letzter aktiver GuLag war es noch bis zur unter Gorbatschow aktiv und wird nun auf Initiative der ehemaligen Insassen als Museum bewahrt.
Jenseits des Ural
Ein paar Stunden später erwartet uns in Bingi, einem kleinen Dorf schon in Sibirien, Stefan Semken. Sein Motto: „Rußland ist nicht Teil Europas und deshalb ein wenig anders.“
Authentisches Rußland
Die folgende Etappe nach Omsk führt unweit der kasachischen Grenze vorbei. Genau wie wir benutzen viele Kraftfahrer diese Route. Güter werden auch hier „just in time“ auf der Straße transportiert. Obwohl der Straßenbau in Rußland Hochkonjunktur hat, sind noch viele Haupt- und Nebenstrecken in einem bedauernswerten Zustand.
In Novosibirsk gelingt es Dimitri, unserem lokalen Schrauber, nicht, die immer wieder überkochende Ducati dauerhaft zu reparieren. Mit BMW kennt er sich besser doch aus. Auch hier sind die Veränderungen ersichtlich: Dimitri hat inzwischen Familie und arbeitet deshalb nicht mehr am Sonntag. Inzwischen ist seine Auftragslage so gut, daß er einen Angestellten hat.
Bei den „Weißen Wölfen“
Völlig ungewohnt für viele Teilnehmer der Tour ist der Besuch des Ehrenhains für die Gefallenen des 2. Weltkrieges. Dieses mehrere Hektar große Gelände ist übersät mit Gedenktafeln, Monumenten und Waffen des Krieges. Die Verehrung der Gefallenen des zweiten Weltkrieges hat in Rußland Züge einer „Schein-Religion“, um von vielen gesellschaftlichen Problemen abzulenken.
Auf der Weiterfahrt nach Kemerowo ist es nicht mehr zu verheimlichen: die Taiga brennt!
Bereits in Novosibirsk konnten wir nur schwer Fotos machen, die Luft ist ausgesprochen diesig. Jetzt lechzen wir nach Regenschauern, die für kurze Zeit die Luft reinigen. In diesen Sumpfgebieten ist es schwierig, eigentlich unmöglich, die zahlreichen Brände zu löschen. Bis man in Moskau auf das Problem aufmerksam wurde, stand hier ein Gebiet von der Größe Westeuropas in Flammen.
Hier wohnt Igor, ein Deutschlehrer, der inzwischen als Verkäufer für Waschmaschinen arbeitet, um seine Familie ernähren zu können. Igor zeigt uns seine Stadt, aber auch ein ethnografische Museum „in der Nähe“ – 100 km entfernt – das über die letzten hier lebenden halbnomadischen Ureinwohner berichtet. In Tulun wird Steinkohle abgebaut, die hier schon in 5 m Tiefe liegt.
Wir besichtigen einen der größten Schaufelradbagger der Welt, der als strategische Reserve sein Dasein fristet. Bewacht wird er von Irina, die hier seit Jahren im Wechsel mit ihrem Kollegen im Wohnwagen Dienst verrichtet. Sie freute sich riesig, uns zu sehen, denn sie hatte es nicht glauben wollen, als wir ihr im vergangenen Jahr versicherten, daß wir wieder kommen würden.
Endlich am Baikal
Es ist müßig aufzuzählen, was die Größe und die Berühmtheit dieses Sees ausmacht, das kann jeder im Lexikon besser nachlesen. Viel erwähnenswerter ist die Tatsache, daß hier auch der letzte Teilnehmer begriffen hatte, daß wir uns in einer anderen Welt befanden.
Widerspruchlos, wenn auch mit einem Zögern, wurden die Motorräder mitsamt Dokumenten einer Spedition anvertraut. Alle kannten die Straßen, die dieser LKW innerhalb von 4 Tagen in Tag- und Nachtfahrt zurückzulegen hatte! Und wir wußten inzwischen, daß unser Rechtsverständnis die Behörden in Rußland nur zum Lachen anregt.
Für unsere Rückfahrt nach Moskau nahmen wir die Transsibirische Eisenbahn, in Rußland das zuverlässigste Verkehrsmittel. Auch in den Zügen müssen wir uns den russischen Bedingungen fügen.
Dazu gehört auch, daß in einem Waggon keinen Strom für die diversen Ladegeräte und Laptops zu erhalten ist, wenn eine Zugbegleiterin ihre Macht ausspielt und behauptet, daß die Staatsbahn Strom sparen müsse. Warum das in anderen Waggons nicht der Fall sei, wollte sie uns nicht erklären.
Vier Tage auf engen Raum in einem Abteil, in dem gegessen, geschlafen und gelesen wird, ist für manchen Motorradfahrer ein Alptraum. So sind wir froh, endlich in Moskau anzukommen. Klasse, im Hotel können wir bereits um 8.00 Uhr morgens die Zimmer zu beziehen. Dafür ist aber auch der Übernachtungspreis mindestens doppelt so hoch wie in Deutschland.
Wohl dem, der bis hierher mit allen Sinnen die Reise aufgenommen hat:
Wer meint, in Moskau gewesen zu sein und deswegen glaubt, Rußland zu kennen, wird nach solch einer Reise eines anderen belehrt. Nein, Moskau ist nicht Rußland!
Auch wir haben die Sehenswürdigkeiten dieser 12 Millionen Stadt gesehen, haben den prunkvollen Kreml, die Metro, die Klöster und Kirchen besichtigt. Aber was sagt das über ein Land aus, das 50-mal größer als Deutschland ist und von dem wir nur etwa die Hälfte auf einem schmalen Band durchreist haben?
Um mir aber ein Urteil oder eine eigene Meinung über Rußland und die dortigen Verhältnisse zu bilden, werde ich sicher noch mehrmals Rußland bereisen. Wie viele, die wiederholt in diesem eindrucksvollen Land waren, werde auch ich den „Virus Rußland“ nicht los. Eventuell trifft man sich ja irgendwo, warum nicht in Rußland?!
Egon Milbrod
Original erschienen auf:
http://www.bikersprofi.eu/erlebnisstour-baikalsee.html
Also in Kamtschatka
- Biker-Profi: Erlebnisse auf einer Tour zum Baikalsee
- Wildes Kamtschatka: Abenteuerreise zu Geysiren und Vulkanen